4. Das Ende eines Mythos

Ein neuer, kalter Morgen in der Aresburg begann. Robert suchte sogleich seinen Bruder Arne auf. Der war auf den Besuch gut vorbereitet und hatte bereits seine Anordnungen an alle verteilt und ein Feuer im Burghof entzünden lassen. Bis zur Essenszeit konnten die beiden sich hier wärmen.

„Wie war die Audienz mit der Fürstin?“ Fragte Arne, während er am Feuer platz nahm und seinen Bruder mit einer Handbewegung zum Sitzen aufforderte. „Kaum zufriedenstellend“ begann Robert. „Der Knecht erzählte mir, was hier vorgefallen ist. Auf welch dünnen Pfeilern die Herrschaft der Fürstin fußt und wie unsicher der Blick in die Zukunft ist. Ich soll die anoranischen Besatzer des Eugen von Howell vertreiben. Dabei aber diplomatisch sein. Ich soll der Fürstin zu großer Macht und dem Land zu Stabilität verhelfen. Was hat dich dazu bewogen, nach mir zu schicken? Was hält dich hier an diesem trostlosen Ort?“

Arne bemerkte, wie sein Bruder sich zurücknahm und wie er innerlich vor Wut kochte. Keineswegs wollte er ihn kränken oder beleidigen und erklärte sich. „Mein Bruder. Du bist Beamter und Diener Anorans. Ich will dir keine Antwort schuldig bleiben. Dieser Teil des Landes ist von den Kernlanden vergessen worden. Ich selbst habe erlebt, wie der anoranische Adel fett und faul geworden ist. Die hohen Herren aus den Kernlanden scheren sich nicht mehr um ihr Volk. Ich kenne den Krieg und all seine Verheerungen.

Ich zog in die Welt, um meinen Nutzen daraus zu ziehen. Doch will ich meine Heimat in Sicherheit wissen. Hier ist es nicht sicher. Die anoranischen Besatzer des Eugen von Howell haben uns betrogen, als sie uns erzählten, dass ihre Krieger das Land beschützen. Sie berauben das Land stattdessen. Die Klans und Ritter im Süden und Westen tyrannisieren Amontor und bekämpfen sich in jahrzehntelangen Fehden gegenseitig. Ich bin als Söldner hierhergekommen. Nun will ich Beschützer der meinen sein. Bruder. Ohne deine Unterstützung ist die Herrschaft des Fürsten kaum von Dauer. Ohne Herrschaft wird das Land im Unglück versinken. Bleib hier für ein besseres Anoran. Für ein geeintes Anoran.“

„Schöne Worte Bruder. Du hast nicht verlernt, die Dinge zu deinen Gunsten zu drehen. Du sagst mir, was du glaubst, was ich hören will. Willst du das hier nur für das Volk tun? Willst das Risiko ganz uneigennützig tragen? Sprich Arne. Was ist dein Vorteil bei der Sache?“

Arne lächelte. Er stand auf, streifte ein langes schwarzes Kettenhemd über seinen Ledergambeson und bewaffnete sich. Eilig sprang ein Junge zu ihm, um den Kettenpanzer zu richten und beim Anlegen des Waffenrockes zu helfen. Beiläufig sagte Arne: „Lass uns ein Stück gehen, Bruder.“

Robert trug als Beamter immer seinen eisenbeschlagenen Lederharnisch. Auch er nahm seine Schwerter und die beiden schlenderten zwischen den Arbeitern hindurch in den winterlichen Wald. Arne ließ sich Zeit mit seiner Antwort: „Ich kann dir nichts vormachen. In diesem Spiel gewinne ich in jedem Fall. Ich trage nicht das Risiko, denn wer will mich zur Strecke bringen, wenn ich mit meinem Wort breche? Jeden Mond holen meine Sechser eine Truhe voll Münzen aus Nakara. Wenn es uns gelingt, in vier Monden eine Handelsroute bis in die fruchtbaren Ebenen am Lichtersee zu erschließen und zu sichern, wird der Strom des Geldes weiterfließen. Gelingt es nicht, dann hat die Fürstin ihre letzte Karte verspielt.“

Arne atmete tief durch und senkte den Kopf, als er fortfuhr: „Diese Fürstin hat etwas an sich, was ich noch nie zuvor bei anderen Adligen gesehen habe. Fürst Dragon ist längst eine Legende. Sie bezieht ihr Macht aus ihrem Mythos. Die Fürstin zeigt sich nur nach Sonnenuntergang und trägt immer eine Maske. Sie zeigt naturgegebene Fähigkeiten, die zu überragender Herrschaft gedeihen können. Wir beide könnten davon profitieren. Was willst du bei den faulen Adligen in den Kernlanden? Der Frieden hat sie fett werden lassen. Sie vernachlässigen Ihre Pflichten und verschwenden ihren Schatz. Sieh, was die Besatzer hier veranstalten. Sie berauben dieses Land. Sie töten ohne Tribunal. Nirgends ist das Recht Anorans ferner. Du als Beamter, der du fähiger bist als die Adligen der Kernlande, kannst darüber hinwegsehen? Wie hilft all das, was du jetzt tust deinem Land? Was könntest du hier bewirken?“

Robert analysierte emotionslos seines Bruders Worte: „Dein Vorteil will mir nun einleuchten. Doch ich muss alles aufgeben, was ich geschaffen habe. Geht es gut, dann wird der Dank an mir vorübergehen. Geht es schief, dann wird es das Ende meiner Privilegien sein. Vielleicht kann ich alles zum Guten wenden. Doch wird es meine ganze Aufmerksamkeit kosten. Meine derzeitigen Amtsgeschäfte werden ruhen müssen.

Wie ist Amontor politisch aufgestellt? Wo herrschen welche Klans und welcher Adel hat noch Macht? Wie ist deren Gesinnung? Welche Bündnisse und welche Fehden bestehen? Was ist über die Rohstoffe dieses Landes bekannt? Wie ist die militärische Gewalt verteilt?

Du hast Recht, Arne. Dieses Land ist es kaum wert, sich ein Teil Anorans nennen zu dürfen. Es ist eine Schande, was die Truppen des Kurfürsten Eugen von Howell hier veranstalten. Verschaffe mir Antworten auf meine Fragen und ich sage dir, ob Aussicht auf Erfolg besteht oder von Anfang an alles zum Scheitern verurteilt ist.“

„Du sollst deine Antworten erhalten.“ Sagte Arne siegessicher. Er wusste, wenn sein Bruder bereit war, die Lage zu erkunden, dann fehlte nicht mehr viel, dass er auch die Amtsgeschäfte übernehmen würde. Wie richtig Arne lag, zeigte Robert ihm prompt: „Verschaffe mir eine weitere Audienz beim Fürsten. Ich bestehe darauf, diese am Tage wahrzunehmen. Allein schon, um das Machtgefälle wieder ins Lot zu bringen. Ich bin nicht als Bittsteller gekommen. Richte es schnell ein. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Die beiden liefen den Weg durch den Wald und schwelgten in Kindheitserinnerungen. Der Weg war ein Patrouillenpfad und führte in einem Bogen um die Burg. Als die beiden wieder in der Aresburg ankamen, wurde gerade zum Essen geläutet. Es gab Suppe. Diesmal mit etwas Hasenfleisch. Die Kinder hatten eine erfolgreiche Jagd und die Bewohner der Burg feierten das magere Essen, als wäre es von den Göttern selbst angerichtet worden.


Fortsetzung am 10.02.2023 mit „Die neue Heimat“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert