11. Audienz

Der Knecht lief über den Burghof und kündigte an, dass es am Abend Audienzen beim Fürsten gebe und jeder sein Anliegen vorbringen soll. Am Abend rief der Knecht dann wie angekündigt, zur Audienz. Jeder, der etwas zu sagen hatte, sollte es der Fürstin vorbringen. Einige Leute meldeten sich an. Der Knecht hatte einen Satz Holztäfelchen bei sich, die er mit Namen und Anliegen beschriftete. Die Warf er in ein kleines leeres Fass. So wählten die Götter den ersten Gast zur Audienz durch die Ziehung eines Loses. Robert riet ihm so zu verfahren, dass die Götter die Reihenfolge zu bestimmen hatten. Auf diese Weise konnte es nicht zu Bevorzugungen und Neid kommen. Gerechtigkeit war ein rares und geschätztes Gut in diesen Zeiten.

Nach der Erfassung der Leute Anliegen griff der Knecht in das Fässchen und zog das erste Los. Er rief den Auserwählten zur Audienz.

Die Kleider des ersten Gastes waren geschunden und zerlumpt, seine Hände von harter Arbeit gezeichnet. Er wusch sich den Schmutz aus dem Gesicht und von den Armen, bevor er den Burgfried betrat. Wie alle wehrfähigen Männer und Frauen in der Burg wurde auch er in die Miliz eingezogen.

Der Knecht kündigte den Mann gebührend an:

„Hans der Milizionär betritt den Saal. Sein Ansinnen ist der Wald um die Aresburg. Tritt vor Hans und beschreib unserer großen Fürstin dein Anliegen.“

Hans näherte sich nur zögerlich der Fürstin. Fürst Dragon saß auf dem Thron im dunklen Saal. Die weiße Maske zeichnete Schatten im flackernden Feuer der Lampen. Ihre Stimme ertönte fest und laut: „Weder harte Arbeit noch Armut schänden dich in diesen Gemäuern. Erstrecht nicht in diesen schweren Zeiten.“

Hans kniete vor der Fürstin nieder und senkte den Kopf unterwürfig. Die Fürstin wies ihm mit einer Handbewegung, dass er sich erheben soll. „Sprich zu uns Hans. Was ist dein Anliegen?“ Sprach sie.

„Ich bin Hans. Ich bin besorgt wegen des Waldes im Umland.“ Sagte Hans nach einer kurzen Pause. Er wirkte nervös. Fürst Dragons grausamer Ruf führt zu einer unangenehmen Benommenheit. Wieder sprach dir Fürstin zu ihm: „An den Wänden dieses Saals siehst du die Narrenkappen. Die versichern dir freie Rede und Burgfrieden. Niemand darf hier für seine Worte gerichtet werden. Niemand muss hier für seine Worte Strafe fürchten. Im Gegenteil. Die Leute sind der Fürstin Augen und Ohren. Den Zorn lenkst du nur auf dich, wenn du Wichtiges verschweigst. Wir können nur dann alles sehen und alles hören, wenn uns die Augen und Ohren nicht versagen. Außerdem hat der Segen der Götter dein Los als erstes erwählt. Steh gerade und sprich frei und offen.“

Hans sammelte sich, stellte sich gerade und drückte die Brust nach vorn: „Der Wald leidet unter der Rodung. Der Bau der Burganlagen braucht viel Holz und ich sah, dass die Siedlung vor der Stadt auch umfriedet wird. Das wird den Wald empfindlich verdrängen. Doch ist dieser unsere wichtigste Nahrungsquelle im Winter. Die Tiere und Waldfrüchte verschwinden mit den Bäumen.“

Die starre Mine der Fürstenmaske starrt den Mann regungslos an. Dann fragte die Fürstin: „Was ist deine Berufung? Für welches Handwerk zeigst du Leidenschaft? Was macht dich zum Experten für den Wald?“

„Mein Vater war Förster und das ist auch mein Handwerk. Der Wald ist meine Leidenschaft, Hoheit.“

Der Knecht, der dem Schauspiel beiwohnte, dachte über das nach, was der Beamte ihm über die Klugheit vermittelt hatte. War der Mann da wirklich ein herausragender Experte in seinem Fach? Oder wollte er sich nur hervortun? Bevor er den Gedanken beenden konnte, prüfte die Fürstin, ob Hans es vermochte, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden: „Wir brauchen eine wehrfähige Burg, oder wir werden von Feinden vertilgt. Ist der Winter für die Holzernte nicht gut geeignet?“

Hans dachte kurz nach und verlieh seiner Stimme dann Kraft: „Ohne die Burg wird ein Kampf gegen Feinde schlimme Folgen haben, doch ohne Nahrung werden wir in einer sicheren Feste am Hunger sterben. Euer Geschick hat die Not hier gelindert, doch braucht der Wald eine Generation, um zu neuer Pracht zu gedeihen. Zwei Generation, um erneut geerntet werden zu können. Was wir heute roden, kann uns jahrzehntelang zum Mangel werden.“

„Wie können wir den Wald erhalten und dennoch Holz gewinnen?“ Fragte die Fürstin.

„Wenn wir das Holz nicht in der Fläche ernten. Wenn wir nur enge Schneisen schlagen, dann wird der Wald nicht leiden. Dann werden die Tiere bleiben und die Waldfrüchte im Winter in der Nähe sein.“ Sagte Hans nun mit fester Stimme und voller Überzeugung. „Werden die Schneisen in der richtigen Richtung angelegt, dann können diese auch militärische Bedeutung gewinnen. Wenn ein Feind Feuer als Waffe einsetzt, dann wird es an den gerodeten Stellen gelöscht, weil es dort an Brennholz fehlt.“

Die Fürstin fragte weiter mit der Absicht, Hans sein Wissen zu prüfen: „Wie sollen solche Schneisen geschlagen werden? Wird das nicht den Transportweg vergrößern und die Arbeiter schwere Mühen kosten? Wird der Bau der Burg dadurch verzögert?“

„Der Bau der Burg ist kaum mein Fachgebiet. Ich verstehe die Bedeutung für unser aller Sicherheit, doch kann der Bau auch mit dem Wald einhergehen. Wenn wir die Wege verbreitern, gewinnen wir Holz und erhalten den Wald. Es ist zwar mühsamer, das Holz heranzuschaffen, aber breitere Wege werden wir brauchen, um der zunehmenden Zahl an Fuhrwerken Herr zu werden. Außerdem können wir den Wald zusätzlich am Flussufer roden.

Das Holz können wir flussaufwärts durch das Wasser ziehen. Das ist leichter als über den Landweg und wir sichern den Fluss dadurch militärisch. Der Wald soll Räubern keine Deckung mehr an den Ufern bieten. Wenn das ganze Holz nicht reichen soll, dann können wir noch Lichtungen und Brandschneisen im Kreis um die Burg schlagen. Die können aufgeforstet werden. Die zusätzlichen Mühen sind gering, doch den Nutzen werden unsere Kinder noch erben. Es wird sich auszahlen, den Wald zu schonen.“

Offenbar kannte sich Hans wahrhaftig mit dem Wald aus und kannte auch kluge Lösungen, die über sein Fachgebiet hinausgingen. Fürst Dragon sah Hans lange und tief und die Augen. Hans war es kalt in dem dunklen Saal. Seine Körperhaltung entspannte sich, als die Fürstin zu ihm sprach: „Hab Dank für deine offene Rede. Dein Anliegen wird sehr ernst genommen. Du hast dich als würdig erwiesen. Mögen die Götter dir gnädig sein.“

Hans verließ den Saal in den Burghof, wo inzwischen die tiefste Nacht vorherrschte. Draußen stand noch immer eine Handvoll Leute, die eine Audienz wünschten, aber nicht wussten, wer als Nächster drankäme.

Der Knecht hatte mit Hans noch nicht abgeschlossen. Er versuchte das Tierkreuz anzuwenden und konnte sich einfach keinen Reim darauf bilden, wie Hans sich gerade gegeben hat.

Welche Tiere aus dem Tierkreuz verbargen sich wohl in dem Mann? Konnte diese kurze Audienz das Gemüt von Hans enthüllen, oder war es der Fürstin unmöglich, das Tierkreuz anzuwenden, weil ihre Anwesenheit die Leute zu sehr einschüchterte?

Hans war offen für neue Ideen und wollte Veränderungen wie das Eichhörnchen. Er wirkte strukturiert und genau. Er wusste, was er tat, wie die Eule. Hans wollte den Wald schützen und sorgte sich um das Wohl der Burgbewohner wie der Ochse. Er verlor sich nicht in Details. Hans wirkte entschlossen und zielsicher wie der Adler. Was haben die Götter sich dabei gedacht? Wie sollte man mit Hans verfahren?

Robert bemerkte, wie der Knecht grübelte. Er lehnte sich zu ihm und sprach leise: „Hast du bemerkt, wie unsere Fürstin dem Gast geschickt sein Wissen entlockte? Das wahre Wesen eines Gastes wird dem Fürsten jedoch immer verborgen bleiben. Das wird zukünftig in deiner Verantwortung sein. Ich werde dich darauf vorbereiten.“

Der Knecht erkannte zwar alles, was Robert ihm unterrichtet hat im Verhalten des Fürsten wieder. Er konnte nun auch den Hans als Experte seines Faches ausmachen. Doch erschloss sich ihm nicht, was es mit dem wahren Wesen auf sich haben sollte. Er fragte daher: „Wenn doch die Macht und die Fähigkeiten der Fürstin so großartig sind, warum mangelt es dann an der Fähigkeit, das wahre Wesen der Leute zu ergründen?“

Robert lächelte wieder mit einem Hauch von Arroganz und Überlegenheit im Gesicht. „Die Fürstin verfügt sehr wohl über die Fähigkeit, das wahre Wesen der Leute ergründen zu können. Ich kenne keinen, der darin geübter währe. Doch sieht sie sich gut vor. Das wahre Wesen ihrer Untertanen wird ihr immer verborgen bleiben, weil diese sie täuschen. Das hat keinen Vorsatz zur Ursache. Ihre Gäste und Untertanen schätzen und fürchten ihre Macht. Sie sind geblendet von Prestige und der hohen Stellung. Sie wollen selbst nicht blenden, sondern nur Gunst und Gnade gewinnen.

Sie wollen der Fürstin zum Munde reden und sie zufriedenstellen. Zumindest aber nicht erzürnen. Sie werden sich nur ihresgleichen so zeigen, wie sie wirklich sind. Die Fürstin kann nur das Wesen anderer Adliger ergründen, die von ihrer Größe weniger beeindruckt sind. Dies wird dir verborgen bleiben, Knecht. So ist immer eine magische Barriere zwischen Herrschern und Untertanen. Ich werde dir beibringen, diese Barriere zu manipulieren und nach Belieben als Werkzeug einzusetzen. Doch eines nach dem anderen. Die Audienzen müssen weitergehen.“

Es war inzwischen tiefste Nacht. Die meisten Burgbewohner schliefen bereits und es war bitterkalt. Der Knecht ging zum Fass mit den Holztafeln, um den nächsten Gast auszulosen. Gerade als er die Hand in das Fass steckte, rief ein Wachposten auf der Burgmauer: „Alarm! Wir werden angegriffen! Alarm!“

Arne, der Feldherr sprang aus seinem Zelt, befahl zwei zufällig herumstehenden Kerlen, dass sie sich bewaffnen sollen und rief in Richtung der Burgmauer: „Wie viele sind es? Welche Waffengattung? Welches Banner?“ Die Glocke wurde geläutet und der gerade noch leere Burghof füllte sich mit Leben.


Fortsetzung am 19.05.2023 mit „Schatten in der Nacht“

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