1. Anorans Beamter

Zu Beginn des Jahres 222 reiste ein Mann mit gepflegten Bart namens Robert durch das eisige Ödland von Helegon. Das Land war kaum erschlossen. Die Wege glichen mehr Trampelpfade als Straßen. Ein Fluss und ein einheimischer Fischer boten besseres Vorrankommen als der Landweg. Robert fror, doch war er als Veteran genügsam und beklagte sich selten. Schnell kam er voran. Sein Ziel war Amontor, eine helegonische Gemarkung an der südöstlichen Außengrenze von Anoran.

Robert war einer der wenigen Beamten Anorans. Ohne hochgeboren zu sein, hatte er weitreichende Befugnisse und ohne Land zu besitzen, verwaltete er Hof und Leute. Seiner Meinung nach war es besser, Beamte für die Verwaltung einzusetzen als Adlige. Beamte dienen ihrem Dienstherrn und ihrem Land. Adlige verfolgen zu oft eigene Interessen und vernachlässigen ihre Pflichten. Wo ein Beamter durch einen anderen ersetzt werden kann, gilt im Adel meist die Erbfolge. So war Robert ein treuer Diener seines Landes, dem seine ganze Loyalität galt. Er war ein Beamter durch und durch.

Nun reiste er durch sein geliebtes Heimatland. Zu einer Stadt, von der er noch nie gehört hatte. Robert reiste inkognito. Ohne Geleit und ohne Banner. Unter seinem langen blauen Mantel trug er eine eisenbeschlagene Lederrüstung, zwei Schwerter und keinen Waffenrock. In seinem Bündel fanden sich nur eine ungenaue Karte, Schreibzeug, Siegel, Zunderzeug und etwas Wegzehrung.

Der kalte Wind biss in seinem bärtigen Gesicht, dass er die Augen zukniff. Die Zeit verging langsam in dem Boot, in dem er fuhr. Es war eisig und still. Das Eis knackte im leichten Wellenschlag des Bootes. Der Fischer, der das Boot den Fluss hinab lenkte, versicherte Robert, dass die Götter gnädig mit ihm seien, weil der Fluss zu dieser Jahreszeit nur selten eine fahrbare Rinne freigab. Die Landschaft änderte sich kaum, bis dann Türme in der Ferne aus dem Nebel lugten. Das Boot näherte sich einer hohen Mauer. Schwer gepanzerte Wachen zeigten sich. Robert landete am Flussufer. Er zahlte den Fischer aus und ging zu Fuß zu einem großen Tor inmitten furchterregender Verteidigungsanlagen, denen man so manchen Belagerungsversuch ansehen konnte. Dennoch schien alles gut in Schuss zu sein.

Robert bat um Einlass in die Stadt Nakara. Doch ohne Einladung eines eingetragenen Stadtbewohners oder einer Handelslizenz der nakarischen Bürgermeisterin wurde ihm der Zutritt zur Stadt verweigert. Nicht grundlos gilt Nakara als uneinnehmbare Festung.

Wie viele andere begab sich Robert der Beamte in eines der zahlreichen Gasthäuser vor den Stadtmauern Nakaras. Er stärkte sich, mietete ein Bett und bezahlte den Wirt. Am nächsten Morgen rüstete sich Robert, um sich weiter auf den Weg zu machen. Nakara war nicht das Ziel seiner Reise. Robert wollte nach Aresburg.

Zwei Wochen zuvor hatte Robert noch keinen Schimmer, dass er sich auf diese Reise begeben würde. Bis er einen Brief von seinem Bruder Arne erhielt. Arnes Lebensinhalt war der Krieg. Er hat sich in der Vergangenheit als Feldherr bewehrt und die Truppen von den Fürsten in die Schlacht geführt, die am meisten dafür zahlen konnten. Arne war berüchtigt, niemals eine Schlacht zu verlieren. Wer ihm seine Soldaten anvertraute, durfte zu Recht auf den Sieg hoffen. Wenn Arne nicht gerade in den Krieg zog, rekrutierte er Milizionäre und bildete sie aus. So blieb er und sein Gefolge in Übung und zwar gegen Bezahlung.

Arnes Gefolge war eine Miliz, die sich selbst „die Sechser“ nannte. Genaugenommen waren die Sechser mehr eine Söldnertruppe als eine Miliz, aber das ist eine andere Geschichte.

Als nun Robert einen Brief in krakeliger Kinderschrift von seinem eher schreibfaulen Bruder Arne erhielt, war ihm klar, dass es wichtig sein musste. Arne schrieb seinem Bruder, dass Marta die Frau des Beamten in Gefahr sei und Robert ohne Zögern nach Aresburg kommen möge, um die Dinge wieder ins Lot zu rücken.

Roberts Gemahlin reiste seit einigen Jahren mit Arne und den Sechsern. Einerseits, weil Robert sie da in Sicherheit wähnte und andererseits, damit Marta ihm nicht nerven konnte, wenn er seinen Amtsgeschäften nachging. Robert liebte seine Frau auf seine Weise.

Wenn sein Bruder Arne ihn um Hilfe bat, dann musste es sich um etwas kompliziertes handeln, was nicht gewaltsam zu lösen war. Umso motivierter beschritt Robert seine Reise. Der Weg von Nakara nach Aresburg war schnell beschrieben. Man folge dem Fluss Unterpregel, der bei Nakara ins Meer mündet, stromaufwärts. Bei der ersten Gabelung folge man dem Fluss Berts, der aus Richtung der Berge kommt. Schon kommt man nach Aresburg.

Robert wählte diesmal den Landweg. Die Gegend hatte den Ruf, gefährlich zu sein und es ist für einen einzelnen Reisenden leichter, sich in die Büsche zu schlagen, als mit einem Boot davon zu rudern. Insbesondere, wenn der Kurs flussaufwärts ist.

Nach kurzer Zeit führte Roberts Weg in einen Wald. Es war leicht, auf dem richtigen Weg zu bleiben. Der Fluss blieb immer in Sichtweite. Schnee fiel und machte leise klirrende Geräusche in den Bäumen. Sonst war es still im Wald. Der Schnee ächzte unter Roberts Stiefeln. Einige Sonnenstrahlen durchschnitten die Baumkronen und verwandelten den kalten Wald in einen überaus friedlichen Ort.

Spuren von Hufen und Wagenrädern verrieten, dass der Weg auch von Händlern genutzt wurde. Doch an diesem Tag war kein einziges Fuhrwerk unterwegs.

Am Abend, als die Sonne schon tief stand und der Himmel sich rot färbte, suchte sich Robert einen geeigneten Lagerplatz. Da hallten Stimmen durch den Wald. Das Rasseln von Kettengliedern auf Plattenpanzern und das Stapfen schwerer Stiefel deutete auf Krieger. Robert trat durchs Unterholz, um keine Spuren im Schnee zu hinterlassen. Er suchte sich ein Versteck im Gebüsch mit guter Sicht auf den Weg.

In der Dämmerung waren nur Umrisse erkennbar. Etwa ein Dutzend schwer gepanzerter Krieger ließen sich an der Stelle nieder, die Robert für sein Nachtlager gewählt hatte. Offenbar eine gute Stelle für ein Lager. Die Krieger kümmerten sich nicht um Spuren im Schnee und bemerkten Robert nicht. Selbst dann nicht, als Robert sich durchs Unterholz der Gruppe näherte und dabei nicht ganz lautlos war.

Die Krieger entzündeten ein Feuer, in dessen Schein Robert die Waffenröcke erkennen konnte. Sie waren schwarz mit einer silbernen Raute auf der Brust. Das waren keine normalen Soldaten. Soldaten trugen die Farben und Wappen von Ritterhäusern oder Fürsten oder von Städten auf der Brust. Eine Raute hatten nur die Sechser.

Robert trat aus dem Gebüsch und ging sehr aufrecht auf die Gruppe zu. Schon aus einiger Entfernung grüßte er laut, um auf sich aufmerksam zu machen. Es war niemals gut, Krieger nach Sonnenuntergang in ihrem Lager zu überraschen.

Sein Bruder Arne erkannte Robert sofort an der Stimme. Nach Jahren, die sie sich nicht sehen konnten, lagen sich die Brüder vor Freude in den Armen.

Arne hatte vor, Robert in Nakara zu empfangen. Er rechnete frühestens in drei Tagen mit seiner Ankunft. Die Zeit wollte Arne nutzen, um in Nakara Geschäfte zu machen. Das hatte sich nun erledigt. Arne passte sich immer schnell neuen Situationen an, weshalb ihm die Abweichung von seinem Plan nur recht sein konnte. Wer sich über überraschende Situationen grämt, der taugt nicht zum Feldherrn.

Nach einer langen, kalten Nacht mit wenig Schlaf brachen die Sechser mit ihrem Gast auf nach Aresburg. Die heitere Stimmung ließ die Zeit wie im Fluge vergehen. Am Abend zeigten sich die Türme der Burg am Berg Ares. Vor der Burg war eine kleine Siedlung. Sollte das die Stadt Aresburg sein? Zumindest die Burg war die Aresburg und dort sollte Robert auf seine Frau Marta treffen. Sie war unversehrt und guter Dinge. Aus Freude über das Wiedersehen stellte Robert seine Fragen zur vorgefundenen Situation zurück. Diese Nacht wollte er bei seiner Frau auf der Aresburg verbringen.

Den folgenden Morgen nutzte Robert zur Inspektion der Burg. Die Morgensonne zeigte ein Bild der Zerstörung. Die Aresburg machte ihrem Namen kaum Ehre. Der Burgfried schien lange verlassen gewesen zu sein. Die Holztürme sahen aus wie neu errichtet und stellten den einzigen fertigen Teil der Burg dar. Die Steinmauer zeigte große Löcher, die notdürftig mit Holz gesichert waren. Die Stallungen waren praktisch nicht vorhanden. Die Krieger schliefen in Zelten. Vor der Burg begannen einige Männer und Frauen ihre Arbeit am halb fertigen Burggraben. Der Graben war nicht mit Wasser gefüllt, sondern mit angespitzten Holzpfählen gespickt. In dem Zustand würde die Burg einer Belagerung keine Woche standhalten.

Was hatte das alles hier mit Marta zu tun und wie sollten die Talente eines Beamten hier von Nutzen sein? Für die militärische Sicherung der Burg war Arne der bessere Mann. Sollte hier an diesem Ort eine Gefahr im Verborgenen schlummern?

Roberts morgendliche Grübelei wurde durch die Essensglocke unterbrochen. Alle Bewohner der Burg und auch die Menschen aus den Häusern vor der Burg kamen herbei, setzten einige Bretter und Böcke zu einer langen Tafel zusammen und ließen sich von lumpig gekleideten Mägden und Knechten heißen Brei servieren.

Das Essen wurde wie in den schlimmsten Notzeiten rationiert. Einen Nachschlag gab es nicht. Die Menschen hier schienen das gewohnt zu sein. Alle fügten sich Arnes Anweisungen, die er im militärischen Zack ausstieß.

Im Brei war kaum Getreide, geschweige denn Fleisch. Kastanien, Eicheln und Sägemehl waren eingemischt, um die Mägen zu füllen. Kräuter machten die Pampe halbwegs genießbar. Robert verschenkte den Rest seines Brotes, welches er als Proviant mitführte, an die Kinder.

Was hat Arne wohl dazu bewegt, Roberts Frau an einen solchen Ort zu führen? Warum verheerte Arne nicht das Umland, um seine Krieger zu nähren? Stand Arne etwa unter Sold? Wer sollte sich an diesem traurigen Ort Söldner leisten können? Vieles passte nicht zusammen und der Burgherr zeigte sich am Morgen nicht und auch im weiteren Verlauf des Tages war kein Adel sichtbar.

Nachdem Robert seinen ersten Tag auf der Burg damit zubrachte, sich ein Bild der Lage zu verschaffen, brannte er darauf, seinen Bruder zur Rede zu stellen. Was war der eigentliche Grund, weshalb Arne so dringend nach seinen Bruder – den Beamten – schicken ließ?


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