10. Der Blender und der Fähige

Robert drängte bald mit den Audienzen für die einfachen Leute zu beginnen. Er bestand außerdem darauf, dass der Knecht dem Schauspiel beiwohnte, damit ihm diese Erfahrung als Zeremonienmeister nütze. Als Erstes sollte der Knecht die Künste der Persönlichkeitserkennung erlernen. Das sollte ihn befähigen, den Blender vom Ahnungsvollen zu unterscheiden, Verhalten vorauszusagen und jedem die passende Aufgabe zuweisen zu können.

Robert bat den Knecht erneut in seine Studierstube. Die Stube hatte keinen Kamin und auch sonst keine Möglichkeit der Beheizung. Das kleine Fenster war mit einem Holzgitter verdeckt, in welchem Heubüschel steckten. So kam nur noch ein zarter Schein vom Tageslicht hinein, aber es zog nicht allzu sehr. Dennoch war es bitterkalt.

Robert hielt dem Knecht nun einen Vortrag darüber, dass das Erkennen von Kompetenz nur durch kühle Berechnung gelingen kann und dass es Hunderte von Manipulationsmethoden gäbe, die es dem Blender ermöglichen, Kompetenz zu zeigen, die gar nicht vorhanden sein. „Das Tierkreuz ermöglicht es dir, Charaktereigenschaften zu erkennen. Doch liegt es nicht im Charakter, ob jemand weise ist oder nur ein Blender. Zunächst soll es uns gleich sein, ob uns jemand die Wahrheit verschweigt. Wir wollen nur wissen, ob uns jemand einen Bären aufbinden will, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Wir wollen einschätzen, ob jemand etwas von dem versteht, was er uns erzählt, ohne dass wir selbst dessen Fach verstehen.“

Der Knecht sah Robert etwas ungläubig an. Er soll also einschätzen, ob beispielsweise ein Steinmetz ein Meister seines Faches ist, ohne selbst nur den blassesten Schimmer vom Steinehauen zu haben? Und zu allem Überfluss kommt noch, dass es Hunderte Methoden gibt, Kompetenz zu blenden, von denen der Knecht keine kannte (außer dreistes Lügen vielleicht). Robert fuhr fort:

„Bei einer Audienz bringt der Gast selbst ein Thema vor. Das machen wir zum Aufhänger, um herauszufinden, ob der Gast aus Dummheit spricht und unsere Zeit verschwendet. Oder ob es wichtig ist, was er zu sagen hat und ob er selbst klug genug ist, um das einschätzen zu können. Genau hier wird die Fürstin beginnen, Fragen zu formulieren. Kann der Gast Wichtiges von Unwichtigen unterscheiden? Bleibt der Gast beim Thema, oder weicht er aus? Stellt er Gegenfragen, die zum Thema passen, oder will er ablenken? Dann wird nach dem Kern der Sache gefragt und wie des Gastes Lösungen sind. Geht er auf die Fragen ein? Sind seine Antworten logisch und nachvollziehbar? Kann der Gast Vorteile und Nachteile erfassen und wiedergeben?

Mit ein wenig Erfahrung wirst du schnell einschätzen können, wer klug spricht und wer heuchelt. Doch gräme dich niemals. Die Leute verschaffen sich gern Vorteile, wollen aber selten jemanden verärgern. Unterstelle immer gute Absichten. Wie du dich vor bösen Absichten wappnest, unterrichte ich dir später. Mach dir klar, dass deine Einschätzung nur auf Indizien basiert. Dein Urteil kann ungenau oder sogar falsch sein. Jeder muss immer eine weitere Chance erhalten können.

Nichts wird häufiger geheuchelt als die eigene Klugheit und nichts wird höher bewertet als die eigenen Probleme. Heuchler und unnütze Bittsteller müssen schnell erkannt und abgewiesen werden. Das wird sich herumsprechen und dazu führen, dass nur noch wichtige Anliegen beim Fürsten vorgetragen werden. Eine gewisse Ungenauigkeit nehmen wir in Kauf.“

Der Knecht nickte eifrig mit dem Kopf. Er hatte sich die Kunst der Macht magischer vorgestellt. Das Üben weltlicher Dinge schien ihm zu banal und er fragte ungläubig: „Das hört sich an, als könnte es jeder lernen. Ist es dem Adel denn nicht von den Göttern ins Blut gegeben worden, wie zu regieren sei?“

Robert schmunzelte: „Genau das ist die Macht, die ein Herrscher ausstrahlen muss. Alle sollen glauben, dass er von den Göttern gesegnet sei. In Wahrheit liegt die Macht jedoch in der Ausbildung, die viele Adlige bereits seit ihrer Kindheit genießen dürfen. Die Macht liegt außerdem in der Übung, das ausgebildete Wissen anzuwenden. Du hingegen bist zum Untertan ausgebildet worden. Du sollst gehorchen, nützlich sein und sollst dem dienen, der deinen Lebensunterhalt zur Verfügung stellt. Die meisten Adligen müssen sich um ihr Auskommen nicht sorgen. Sie müssen das Dienen nicht üben, um zu überleben. Sie lernen das Herrschen. So ist es die göttliche Macht, die entscheidet, ob jemand ein Auskommen hat oder nicht. Ob jemand dienen muss oder herrschen kann. Nur selten kommt es vor, dass jemand aus den Reihen der Untertanen zum Herrscher taugt.“

Der Knecht dachte an das Tierkreuz und daran, dass Robert ihm zeigen wollte, wie einem Jeden die richtigen Aufgaben zuzuordnen sein.

„Robert, wie befähigt mich das Messen der Klugheit der Leute, für diese die richtigen Aufgaben zu finden? Mir ist klar, dass es Aufgaben für kluge und welche für dumme Leute gibt. Manch einer mag in einer Sache dumm und in einer anderen Sache klug sein.“

Robert antwortete: „Hab Geduld. Ich zeigte dir heute nur, wie du verhinderst, dass Leute deine Zeit verschwenden. Das Einschätzen der Leute lehre ich dir nach den ersten Audienzen. Beobachte zunächst, wie sich die Fürstin verhält. Daraus werden wir viel zu lernen haben.“ Robert stand auf und forderte den Knecht auf: „Bereite dich nun vor. Du wirst den Herold geben und zur Audienz bestellen.“


Fortsetzung am 05.05.2023 mit „Audienz“

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